Ihr Text wurde gelesen (aber nicht verstanden)!

Als Autor von Finanzkommunikation hat man es nicht leicht. Dafür sorgen schon die vielen verschiedenen Zielgruppen, denen man es recht machen muss – und die ganz unterschiedliche Vorstellungen von einem guten Text haben. Der Vorstand möchte Visionen vermitteln, der Wirtschaftsprüfer nur belegbare Formulierungen zulassen. Analysten wollen überzeugt werden, potenzielle Investoren begeistert. Finanzjournalisten freuen sich über Unerwartetes, Aufsichtsräte eher nicht. Und als wäre das nicht schon kompliziert genug, muss man sich jetzt auch noch mit einer wahrhaft unmenschlichen Zielgruppe auseinandersetzen: Die Computer lesen mit.

Das hat damit zu tun, dass sich nicht alle kursrelevanten Informationen zu einem Unternehmen in Zahlenform darstellen lassen. Manchmal steckt das Trading-Signal eben im Text. Und um möglichst schnell möglichst viele dieser Textinformationen verarbeiten zu können, setzen Investoren auf maschinelle Lesehilfen. Die automatisierte Analyse von Unternehmenskommunikation konzentriert sich dabei auf das sogenannte „Sentiment“: Ist der Inhalt einer Veröffentlichung eher positiv oder eher negativ für den Kapitalmarkt? Wer diese Information schneller erhält und verarbeitet als andere, hat einen Wettbewerbsvorteil.

Zumindest in der Theorie. Und diese Theorie setzt voraus, dass alle Marktteilnehmer das gleiche Sentiment aus einem Text herauslesen und diese Erkenntnis in eine gleichgerichtete Marktreaktion ummünzen. So ähnlich hatte John Maynard Keynes schon vor 100 Jahren den Kapitalmarkt beschrieben: „anticipating what average opinion expects the average opinion to be.“

Und für bestimmte Informationen erscheint die Theorie ja auch plausibel. Wer eine Ad hoc-Mitteilung publiziert, hat vermutlich eine ziemlich klare Vorstellung davon, ob und in welche Richtung diese Information den Kapitalmarkt bewegt. Wer also als erster die Ad hoc-Mitteilung liest und daraufhin Aktien kauft oder verkauft, kann Gewinne einstreichen oder Verluste begrenzen. Und hier kommen die Computer ins Spiel. Denn keiner ist schneller im Lesen und im Trading.

Nur: Woher weiß ein Computer eigentlich, ob eine Ad hoc-Mitteilung ein positives oder negatives Sentiment hat? Wie immer, wenn ein Computer involviert ist, lautet die Antwort: Er rechnet es aus. Zunächst gleicht eine Software die einzelnen Begriffe in einem Text mit speziellen Wörterbüchern ab. Diese enthalten Angaben zur positiven oder negativen Bedeutung eines Begriffs und zur Intensität dieser Ausprägung. So gilt das Wort „schön“ als positiv, aber als nicht so positiv wie das Wort „wunderschön“. „Schade“ hingegen ist nicht so schlimm wie „schlimm“. Und der Begriff „Dividendenerhöhung“ dürfte – zumindest aus Aktionärssicht – positiver besetzt sein als das Wort „Insolvenz“. Aus den einzelnen Werten errechnet sich dann das Gesamtergebnis eines Textes, eben das Sentiment.

Das hört sich banal an – und auch nicht ganz sachgerecht. Ob man nämlich in der Pressemitteilung von einer „Restrukturierung“ oder von „Entlassungen“ spricht, ändert in vielen Fällen nichts am Sachverhalt – wohl aber am ermittelten Sentiment. Denn die Textanalyse beschäftigt sich nicht mit dem Sinngehalt einer Publikation, sondern lediglich mit den enthaltenen Signalwörtern. Genauer gesagt: Analysesoftware versteht Texte nicht. Sie erfasst lediglich Begriffe – übrigens auch dann, wenn diese gar nicht Teil eines semantisch kompletten Satzes sind.

Wenn jedes Wort zählt: Ändert man einen Begriff, ändert sich das Sentiment des Satzes.
Wenn jedes Wort zählt: Ändert man einen Begriff, ändert sich das Sentiment des Satzes.

Positive Wörter führen also mehr oder weniger direkt zu positiven Sentiment-Bewertungen. Da könnte man als Kommunikationsentscheider auf die (nicht ganz neue) Idee kommen, dass sich Schönfärberei auszahlt. Das mag sogar sein – solange man sie dauerhaft auf dem gleichen Niveau halten kann. Denn die besseren Analysesysteme ziehen den „Duktus“ eines Unternehmens – also das Sentiment früherer Publikationen – in ihre Berechnungen ein und reagieren insbesondere auf Abweichungen von diesem Erfahrungswert. Wer also bislang immer „herausragende“ Ergebnisse zu vermelden hatte und plötzlich nur noch „starke“ Zahlen, der wird von der Software möglicherweise abgestraft.

Wenn jedes Wort zählt: Ändert man einen Begriff, ändert sich das Sentiment des Satzes.
Toll ist nicht gleich toll: Das Sentiment kann sich auch je nach Satzbau ändern.

Über kurz oder lang dürfte sich deshalb ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen Emittenten und Investoren entwickeln. Denn natürlich kann man Texte, ihre Sentiment-Bewertungen und anschließende Kursbewegungen als Datenbasis nutzen, um mit Künstlicher Intelligenz (KI) optimierte Texte zu verfassen. Das Ergebnis wäre ein schöner KI-Kreislauf, bei dem ein System Texte schreibt, die von einem zweiten System bewertet werden, damit ein drittes System Trades ausführt – und ein viertes System all diese Daten nutzt, um dem ersten System besseres Texten beizubringen.

Eine Frage wäre aber vorher noch zu klären: Ist eigentlich jede Kommunikation positiv oder negativ? Bei einer Ad hoc-Mitteilung mag die Einschätzung noch leicht fallen. Aber Sentiment-Analyse wird auch auf komplexere Finanztexte angewandt. Der Software ist es nämlich egal, ob sie eine kurze Pressemitteilung, einen Analystencall oder einen ganzen Geschäftsbericht zu analysieren hat. Und spätestens, wenn ein Text verschiedene Bewertungen enthält, kommt die althergebrachte Sentiment-Analyse ins Schleudern.

Insofern ist es gut, dass das Niveau der softwarebasierten Textanalyse langsam steigt. So kommen wir etwa auf der inhaltlichen Ebene weg von der naiven Vorstellung, dass jede Aussage mit dem Etikett „positiv“ oder „negativ“ ausreichend beschrieben werden kann. Noch wichtiger jedoch ist die Entwicklung auf der semantischen Ebene. Denn für Computer wie für Menschen gilt: Bevor man sich ein positives oder negatives Urteil bildet, sollte man die Zusammenhänge verstehen. Und bei diesem Textverständnis hapert es noch auf Software-Seite. Zwar können Textanalyse-Programme die semantischen Elemente eines Satzes erkennen – aber eben nicht über das inhaltliche Erfassen seiner Sinnstrukturen. Gerade in der Kapitalmarktkommunikation könnte Textanalyse einen Mehrwert schaffen, wenn sie sich von der Sentiment-Bewertung einzelner Wörter lösen würde. Denn das wahre Datengold steckt in Sätzen, Absätzen und Abschnitten.

Zuerst erschienen in: Three Minutes, Magazin für Kommunikation